Aus Einsamkeit zu Einigkeit

25. Juni 2025

Das Leben hier war schwierig, zumindest für die Schnecke. Die gebastelte Schuhbox bestand aus vielen Elementen wie Moos, Steine, Futterkapsel und Gras. Jedoch konnte die Schnecke nicht überzeugt werden – sie war nicht in der Wildnis. Tag für Tag kroch sie aus ihrem Versteck mit dem unbekannten Schneckenhaus, frass etwas und machte sich wieder auf den Weg zurück. Je mehr sich diese Routine wiederholte, desto mehr erinnerte sich das Tier an das freie Leben.

Nach einer langen Regensaison schien endlich die Sonne. Am frühen Morgen war es Zeit für unsere Schnecke zu schlüpfen. Unter einem Regenbogen und Apfelbaum sah das Schleichtier das erste Mal Licht. Die einzige Sache – beziehungsweise Person - die sie in diesem Moment suchte, war ihre Mutter, aber sie war nicht da. Alleine und verzweifelt machte sie sich auf die Suche nach Nahrung, essenziell für das Überleben. 
Sie war schon immer ein Tier, welches allein reiste und überlebte. In dem Garten, wo sie aufwuchs, gab es keine anderen Schnecken ausser ihr. Auch wenn sie nicht gern alleine war, hielt sie ihre Lebenslust aufrecht.

„Warum bin ich alleine?“, ging ihr eines Tages durch den Kopf.
„Vielleicht bin ich die einzige Schnecke auf der Welt …“
„Aber wo ist dann Mama?“
Sie bezweifelte ihre Existenz.
„Jedenfalls hat sie mich verlassen und ich bin sicher, dass sie mich nicht liebt.“
Langsam liess sie sich vom Ast hinuntergleiten und ging zu ihrem üblichen Salatplatz – dem Eisbergsalat der Menschenfamilie. 
Als die Schnecke gerade frass, ertönte plötzlich ein lautes Geräusch, welches den ganzen Boden vibrieren liess. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Vor Angst versuchte das Tier direkt in den Salat zu schleichen, aber es war zu spät - sie war ein Schleichtier, ein langsames Schleichtier. Das grosse monsterartige Objekt packte sie und hob sie an ihrem Schneckenhaus hoch. In Sekundenschnelle wurde ihr ohnehin schon einsames Leben noch einsamer. Die Schnecke befand sich in einer dunklen Kiste, alleine und ohne jemanden, der ihr helfen konnte.

Sie rührte sich nicht, bis Licht und Essen eintrafen. Stattdessen dachte die Schnecke an ihre Mutter, die sie im Stich liess. Als diese Gedanken kamen, ertönten Schreie von ausserhalb der Box.
„Habe ich dir nicht gesagt, dass du die Tiere in Ruhe lassen sollst!“, rief eine Frau.
„Ach, Mama, ich mag es, sie zu sammeln“, antwortete ein kleiner, schelmischer Junge.
„Versprich mir, dass du dich um diese Tiere kümmern wirst und nicht für ihren Tod verantwortlich wirst!“
„Jaja, okay Mutti …“
„Sie haben auch Gefühle, verstanden?“
„Wie auch immer, ich muss mich jetzt um deine Lieblingstiere kümmern gehen. Ich werde mir etwas Eisbergsalat aus dem Garten leihen.“

Somit begann die Hölle für das Tier – obwohl es nicht mal tot war. 
Am ersten Tag begab sich die Schnecke um die ganze Schuhbox. Tatsächlich war jene gut gebastelt. Was ihr am meisten gefiel, war der Feuchter, schön kühlend. Doch etwas fiel ihr auf: ein Schneckenhaus, identisch zu ihrem eigenen Schneckenhaus. Das sollte wohl Dekoration sein, dachte sie, und überflog es, da etwas Wichtigeres präsent war –ihr Lieblingsessen, Eisbergsalat. Das hungrige Tier begab sich zu dem Futter, während die ganze Schuhbox vom Kind in eine Garage transportiert wurde. Es war dunkel und kühl da, aber Schnecken mochten das (nur unsere Schnecke fiel es schwer, alleine im Dunkeln zu sein).

Nach langem Aufziehen und Füttern wurde die gebastelte Schuhbox immer wie mehr still und einsam. Die Schnecke kroch wieder einmal zu ihrer Futterkapsel – nichts war da: „Das Kind hat wohl wieder vergessen, mir Eisbergsalat zu besorgen“, ging ihr in den Kopf. Das hinderte sie nicht, bis zu ihrem letzten Atemzug zu warten. Es vergingen Tage und die Schuhbox wurde trockener – vor allem da jetzt Sommer kam. Je einsamer die Schnecke wurde, desto mehr erinnerte sie sich an ihre Mutter. Also ging sie zum anderen Schneckenhaus, um sich abzulenken, und lag friedlich daneben. Plötzlich machte alles Sinn: 
„Ich liebe dich, Mama, ich habe dich endlich gefunden.“
Langsam, verhungert, jedoch fröhlich ging sie in ihren Tod.

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